Die Ritualisierung des Scheiterns. Die rituelle Stiftung einer memoria damnata der Besiegten in der antiken und mittelalterlichen Textrezeption

Organisatoren
Francesco Massetti, Bergische Universität Wuppertal; Paul Maria Baumgarten; Institut für Papsttumsforschung
PLZ
42119
Ort
Wuppertal
Land
Deutschland
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
21.09.2023 - 22.09.2023
Von
Niels Sperling, Bergische Universität Wuppertal

Die in Wuppertal stattgefundene Tagung versuchte sich epochenübergreifend den Gescheiterten der Geschichte und der Ritualisierung ihres Scheiterns zu widmen. Quellennah wurde gefragt, wie sich die Stiftung einer memoria damnata in der Wahrnehmung der jeweiligen Zeitgenossen zeigen konnte.

FRANCESCO MASSETTI (Wuppertal) schaffte mit einer Genese des Entstehungsprozesses der Tagung eine Einführung. Als Grundauffassungen stellte er zum einen dar, dass Scheitern zwar gewöhnlich, aber die Erforschung dessen schwierig sei. Zum anderen versuchte er, eine für die Tagung wichtige Definition der Rituale, wobei die Ritualforschung im deutschsprachigen Raum grundlegend auf Gerd Althoff1 aufbaue, zu liefern. Zuletzt betonte er, dass die memoria damnata – anders als die damnatio memoriae – zwar ein Quellenbegriff ist, der bereits für die altrömischen normativen Texte zufassen ist. Diese sei jedoch in Anlehnung an die jüngste Geschichtsforschung nicht als einfache Tilgung der memoria, sondern hauptsächlich im Sinne einer Negativerinnerung an geschlagene Akteure zu verstehen, durch die deren Sieger zur Konsolidierung der eigenen Stellung gestiftet wurde.

Die antike Perspektive brachte MARIAN NEBELIN (Chemnitz), der anhand der Besiegten von Sulla, Caesar und Augustus verdeutlichte, dass Scheitern immer das Ergebnis von Interpretationsvorgängen und damit auch veränderbar sei. Anhand der drei römischen Politiker konnte er zeigen, dass der jeweils jüngere von seinem Vorgänger in Bezug auf den Umgang der eigenen Besiegten lernen konnte. Er postulierte deutlich, dass der gegenwärtige Blick des Historikers Sieger forme und somit auch Besiegte schaffe.

SABINE LEFEBVRE (Bourgogne) zeigte auf, dass der im Dezember 192 ermordete Kaiser Commodus einer vom Senat beschlossenen abolitio memoriae unterzogen wurde. Seine Statuen wurden niedergerissen, seine Namen aus der Öffentlichkeit getilgt. Das Vorgehen passierte in allen Provinzen. Mit Kaiser Septimius Severus musste Commodus rehabilitiert werden. Dokumente mit dem getilgten Namen Commodus’ wurden neu geschrieben, was Lefebvre anhand von Beispielen aus Afrika zeigen konnte. Im Vortrag wurde deutlich, dass Commodus und seine Erinnerung exemplarisch für die Schwierigkeit der Untersuchung der abolitio memoriae steht, die maßgeblich auf Inschriften beruht.

Das Beispiel Kaiser Mauricius’ wählte HARTMUT LEPPIN (Frankfurt am Main) für seinen Vortrag. Der einst erfolgreiche Kaiser in der Epoche der Spätantike wurde von Phocas gestürzt, der damit nicht nur den einstmaligen Kaiser, sondern auch dessen für die Nachfolge vorbestimmten Söhne als Nachfolger verhinderte. Diese Niederlage fand Eingang in die Quellen und schaffte so eine negative Erinnerung, wenngleich die griechische Kirchengeschichte Mauricius geradezu idealtypisch beschreibe, das syrische Pendant dagegen nicht, was Leppin auf die religiösen Unterschiede zurückführen konnte. Der wichtige Erfolg Phocas’ als Sieger währte jedoch wiederum nur bis zu dessen Sturz, was nach Leppin zeigt, dass „Erfolg und Scheitern sehr nahe beieinander“ seien. Er stellte überzeugend dar, dass durch ein Schandritual eine positive memoria Mauricius’ verhindert werden sollte, dies jedoch mit den nachfolgenden Entwicklungen und der Stilisierung des Todes des Mauricius als Martyrium sowie am Ende mit dem Kaisertum seines Sohns Theodosius nicht passierte.

Karlmann und Grifo, den Brüdern Pippins, widmete sich FLORIAN HARTMANN (Aachen) in seinem Beitrag. Er machte das Versagen aller Nekrologien zum Tod Karlsmann, von dem man nicht mal ein gesichertes Todesdatum kennt, deutlich. Zudem zeichnete er nach, wie Pippin die Erinnerung an seine Brüder zu tilgen und zu steuern versuchte. Über Karlmanns Leben im Kloster berichtet dabei der Liber pontificalis am ausführlichsten, wobei die Klostergründungen Karlmanns auf dem Mons Soracte dort beispielsweise keine Erwähnung finden. Stattdessen nennen der Codex epistolaris Carolinus, Einhards Vita Karls des Großen und die Chronica Benedikts von Sant’Andrea diese. Es wurde deutlich, dass weder im Frankenreich noch in der römischen Kirche – wohl aus Nähe zum Langobarden Aistulf – Karlmann gedacht wurde, Pippin in den monastischen Einrichtungen Karlmanns durch seine Führung die memoria steuern wollte.

PHILIPP FREY (Kiel) zeigte anhand einiger Strafprozesse gegen Verschwörer, dass im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert durch ritualisierte Muster eine memoria damnata geschaffen wurde. Als Fallbeispiele wurden die Bestrafungsprozesse Tassilos III., Pippins des Buckligen und Bernhards von Italien ausgewählt, anhand derer aufgezeigt werden konnte, dass diese Prozesse nach festgelegtem und ritualisiertem Muster abliefen. Die Unterlegenen lieferten sich öffentlich in Anwesenheit fränkischer Adliger durch bestimmte Handlungen dem Sieger aus. Anschließend sprachen ebendiese Adligen das Todesurteil aus, das der Herrscher zu Blendung, Exil oder Enteignung abmilderte. Frey konnte in der Darstellung dieser Verschwörung gegen den Herrscher einen Wandel im Umgang mit der memoria erkennen, da die offiziösen Quellen am Ende des 8. Jahrhunderts die Aufstände gegen Karl den Großen noch verschwiegen, während zu Beginn des 9. Jahrhunderts die Verschwörung inklusive der Namen der Verschwörer genannt werden. Eine memoria damnata der Verschwörer wurde so geschaffen.

Der Theorie widmete sich GERALD SCHWEDLER (Kiel), der betonte, dass wissensbildende und vor allem wissensselektionierende Prozesse symbolische Handlungen sowie rituelle Formen bedürfen, um bereits vorhandenes, aber als veraltet, inadäquat oder störend empfundenes Wissen absondern zu können. Die Wirksamkeit könne demnach erhöht werden, wenn plastische Formen diese Wissensveränderung einem Publikum vor Augen führen. Als Beispiele nutzte Schwedler frühmittelalterliche Konzilien der Merowinger- und frühen Karolingerzeit, die deutlich machen, dass performative Akte durchaus mit liturgischen Akten, Verhaltensformen und das Wissen darüber durch demonstrative Falsifikation sowie De-Memorierung zu tilgen versuchen.

Am bekannten Fall Papst Formosus’ zeigte SABRINA BLANK (Aachen), dass die damnatio memoriae nicht die Erinnerung an eine Person, sondern die Annullierung ritueller Handlungen und damit eine Delegitimation eines Pontifikats zum Ziel hatte. Während von Formosus geweihte Priester zur eigenen Legitimation die Rechtmäßigkeit des Papstes verteidigten, sollte dagegen beispielsweise das Abschneiden der segensspenden Finger die Handlungen erkenntlich annullieren. Blank schlussfolgerte, dass das am Ende stehende Verbrennen der Akten der sogenannten Leichensynode eine damnatio memoria kreieren konnte.

HARALD MÜLLER (Aachen) ging es um die Konkurrenz zweier nebeneinanderstehender römischer Bischöfe, wobei der Unterlegene mit symbolischen Handlungen als gescheitert markiert wurde. Er benannte vier Felder: 1) Bestrafung, Schandritte und symbolische Kommunikation bei körperlicher Anwesenheit des Unterlegenen, 2) Totensorge und liturgische Memoria, 3) Eliminierung der formalen Autorität, etwa durch Kassierung oder Verbrennung von Urkunden, 4) Umgang mit Amtsträgern der gescheiterten Konkurrenten. Beispielhaft zeigte Müller, dass alle aufgezeigten Felder erhebliche Wandlungsprozesse erfuhren, in denen Vernichtung, Verdrängung und Verschweigen für Formen wichen, die eine notwendige Wiedereingliederung der Konkurrenten beziehungsweise der ihnen folgenden Teilkirchen ermöglichte. Markante Beispiele wie die Schandritte der gefangenen Gegenpäpste Johannes XVI. (998) und Gregor VIII. (1121) seien demnach weniger Rituale als vielmehr aufsehenerregende Kommunikation der neuen Ordnung mit strikter Situationsbindung. Er schlussfolgerte, dass symbolische Kommunikation in vielen Fällen das Mittel der Wahl, aber eine geografische und zeitliche Überführung kaum kalkulierbar war.

Die Wuppertaler Tagung konnte mit epochenübergreifenden Vorträgen von der Zeit der römischen Republik bis zum Hochmittelalter zeigen, dass die Perspektive der Gescheiterten für die Sieger eine aktive Behandlung ihrer Unterlegenen bedeutete und es diese zu steuern galt. Es wurde jedoch deutlich, dass die Sicht auf das Scheitern nicht unveränderlich, sondern in der historischen Entwicklung selbst variabel ist. Die Tagung führte deutlich vor Augen, dass die Quellen zwar den Sieger betonen, aber gerade die Frage nach den Unterlegenen diese in den Blick der Historiker bringen kann. Zudem konnte gezeigt werden, dass der rituelle Moment in den unterschiedlichen epochalen Kontexten unterschiedlicher Bedeutung zukam – in den skizzierten Krisensituationen des Früh- und Hochmittelalters war dies relevanter als in der römischen Kaiserzeit.

Konferenzübersicht:

Jochen Johrendt (Wuppertal): Begrüßung

Francesco Massetti (Wuppertal): Einleitung

Marian Nebelin (Chemnitz): Sulla, Caesar, Augustus und die Besiegten

Sabine Lefebvre (Bourgogne): Le souvenir de Commode: pratiques d’abolito memoriae et de réhabilitation

Hartmut Leppin (Frankfurt am Main): Der Tod des Kaisers Mauricius und die Heiligung eines Gescheiterten

Florian Hartmann (Aachen): Pippins Brüder: Zur nachhaltigen Marginalisierung Karlmanns und Grifos

Philipp Frey (Kiel): Bestrafungsprozesse Aufständischer im karolingischen Frankenreich bis 834 – Vorabend oder Dämmerung von Ritualen?

Gerald Schwedler (Kiel): Gescheitertes Wissen. Rituelle Formen der Falsifikation, Annihilation und De-Memorierung am Beispiel frühmittelalterlicher Konzilien

Sabrina Blank (Aachen): Damnatio memoriae oder Damnatio in memoria? Die causa formosiana in den historiographischen und konziliaren Quellen

Harald Müller (Aachen): Verschweigen, vernichten, überschreiben. Formen und Reichweiten der Steuerung von Erinnerung im Kontext des umstrittenen Papstamtes

Anmerkung:
1 Vgl. unter anderem Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch
Sprache des Berichts